21.10.2010
Aktuelles
Fachartikel: Anleiterbereitschaft
Anleiterbereitschaft oder: Seinen Kameraden die Chance zur Selbstrettung schaffen!
1. Was ist Anleiterbereitschaft?
Anleiterbereitschaft (ALB) ist eine einsatztaktische Maßnahme zur Sicherstellung eines zweiten Rettungs- und Rückzugswegs für im Innenangriff vorgehende Atemschutzgeräteträger, wenn sich Brandstellen in Geschossen oberhalb des Erdgeschosses befinden.
Hierzu werden je nach Lage Drehleitern, tragbare Leitern und Sprungerettungsgeräte am betroffenen Objekt so in Stellung gebracht, dass im Bedarfsfall ihre sofortige Nutzung zur Rettung möglich ist. Die Anleiterbereitschaft ist ein wichtiger Bestandteil der Einsatzkräfte- und Selbstrettung.
2. Wie geht Anleiterbereitschaft?
Anleiterbereitschaft (ALB) als wichtige einsatztaktische Maßnahme zur Kameraden- und Selbstrettung kann mit Hilfe von Drehleitern und tragbaren Leitern erfolgen.
Von Hubrettungsfahrzeugen erreichbare Gebäudeseiten sind durch die Anleiter-bereitschaft z.B. einer Drehleiter mit Rettungskorb zu sichern (DLK komplett abgestützt – Leiterpark auf- und gegen das Gebäude gerichtet – Korb in räumlicher Nähe zu den Bereichen des Gebäudes, in denen Einsatzkräfte tätig sind).
Idealerweise kann das Hubrettungsfahrzeug so positioniert werden, dass mit ihm gleichzeitig zwei Gebäudeseiten abgedeckt werden können (Positionierung an Häuserecken).
Soweit Gebäudeseiten nicht durch Hubrettungsfahrzeuge zu erreichen sind (Hinterhöfe, Hindernisse, etc.), müssen diese mittels tragbaren Leitern gesichert werden. Falls vorhanden, sind Einsatzkräfte zur Sicherung und zum eventuellen Stellungswechsel der Leitern abzustellen. Lagebedingt kann auch der parallele Einsatz von tragbaren Leitern und Drehleitern an einer Gebäudeseite sinnvoll sein.
Die Verwendung von Drehleitern sollte gegenüber tragbaren Leitern bevorzugt werden, da Drehleitern aufgrund der Flexibilität und erreichbaren Rettungshöhe Vorteile besitzen. Je nach Objekt und Lage kann die ALB durch tragbare Leitern aber auch die einzige Möglichkeit sein, einen Rückzugsweg über Leitern zu garantieren.
Parallel zum Einsatz von Leitern sollte grundsätzlich ein bzw. bei Bedarf mehrere Sprungpolster verfügbar sein, das/die bei entsprechend kritischer Lage schon in Bereitschaft liegen sollte/n.
Alle Atemschutzgeräteträger sind über eine bestehende Anleiterbereitschaft umgehend zu informieren!
Da die Anleiterbereitschaft dem Schutz der im Innenangriff vorgehenden Atemschutzgeräteträger dient, muss sie zeitnah zum Einsatzbeginn eingerichtet werden, um möglichst schnell verfügbar zu sein. Daher sollte die Einrichtung der ALB zum Standardverfahren im Brandeinsatz zählen und in vorhandene Standard-Einsatz-Regeln integriert werden (siehe z.B. Branddirektion Frankfurt a.M. )
Die Einrichtung einer Anleiterbereitschaft ist vom jeweils zuständigen Einheitsführer anzuordnen!
Anleiterbereitschaft stellt eine Maßnahme im Komplex der sicheren Einsatztaktik im Atemschutzeinsatz dar. Sie ist eine gute Möglichkeit zur Selbstrettung, jedoch nur eine Komponente im Notfallmanagement (Selbst- und Eigenrettung).
ALB ersetzt kein effektives Sicherheitstrupp-Konzept oder vollständige und adäquate Persönliche Schutzausrüstung.
Im Verbund aber mit den anderen genannten Maßnahmen und einer Stressresistenz bildenden realistischen AGT-Ausbildung kann Anleiterbereitschaft die Sicherheit der Atemschutzgeräteträger erhöhen.
Insofern muss ALB in die laufende Aus- und Fortbildung für Feuerwehreinsatzkräfte integriert werden.
Während einer bestehenden Anleiterbereitschaft bzw. bei der Nutzung von Leitern als Angriffsweg muss generell der Brandverlauf sorgfältig beobachtet werden, da jederzeit mit einer plötzlichen Brandausbreitung gerechnet werden muss.
Hierbei ist insbesondere auf vollständige persönliche Schutzausrüstung, sowie ausreichenden Atemschutz zu achten.
Falls im Bedarfsfall eine ALB (noch) nicht eingerichtet wurde, können die AGT ihre Situation auch mit anderen Mitteln verbessern. Dazu gehört zum Beispiel das sog. „Hängen“. Dabei legt der AGT ggf. seinen defekten/leeren PA ab, legt sich rittlings auf die Fensterbank und klammert sich mit einem Bein und einem Arm auf der Innenseite des Raumes fest. Diese Methode ist auch mit geschultertem Gerät möglich. Der Großteil des Körpers hängt im Freien und somit im sicheren Bereich und kann hoffentlich solange verharren, bis der AGT durch den Sicherheitstrupp, eine Leiter oder über ein Sprungrettungsgerät gerettet werden kann. Selbst in der denkbar dramatischsten Situation – bei einem Vollbrand des Raumes – ist die direkte Beflammung und die Wärme in dieser Position länger als im Raum stehend auszuhalten.
3. Warum Anleiterbereitschaft?
In der Vergangenheit wurden einige Erfolge in der Kameraden- und Selbstrettung durch Anleiterbereitschaft erzielt, viele Unfälle hätten sicherlich durch Anleiterbereitschaft verhindert werden können.
Die folgend dargestellten Einsatzerfolge und Unfallbeispiele wurden vom Team-atemschutzunfaelle.eu recherchiert und aufgearbeitet.
5. August 2005 – schnelle Brandausbreitung – Rettung über DLK
Antwerpen (Belgien). Am 5. August 2005 kam es in Antwerpen zu einem Brand in einem vierstöckigen Altbau. Ein Trupp suchte im 2. OG nach vermissten Personen. Stattdessen wurde dort jedoch ein kleiner Schwelbrand entdeckt.
Nachdem das Feuer unter Kontrolle war, leitete die DLK 1 die Suche und Rettung in den oberen Geschossen ein. Die DLK wurde eingesetzt, da das Treppenhaus vom Feuer beschädigt war. Kurz nach dem Einstieg in das 3. OG zündete jedoch das 2.OG durch. Der Trupp im 3. OG bemerkte die schnelle Brandausbreitung und trat den Rückzug über DLK 1 an. Die DLK 1 blieb angeleitert, da von dieser Etage kein anderer Weg ins Freie führte. Der Maschinist der DLK 1 wartete, bis der komplette Trupp im Korb war. Gerade als alle im Korb waren, gab es eine Durchzündung im 2.OG; der gesamte Korb und die FA wurden von den Flammen eingehüllt.
Durch qualitativ hochwertige, vollständig getragene PSA und viel Glück wurde kein Truppmitglied verletzt. Der Korb hingegen brannte vollständig aus.
Die kompletten Ursachen für diesen Beinaheunfall sind unklar. Folgende Faktoren waren vermutlich erschwerend:
Der Trupp führte keine Schlauchleitung mit sich. Hätte er diese bei sich gehabt, hätte er den Schwelbrand im 2. OG löschen können. Über die DLK 2 wurde durch eine Ventilationsöffnung im Dach (geplatztes Fensterglas) ein Außenangriff vorgenommen. Dadurch wurde die Natürliche Ventilation behindert und das Potential für eine schnelle Brandausbreitung erhöht.
Bei diesem Einsatz starben außerdem zwei Bewohner des Hauses; mehrere andere Bewohner konnten gerettet werden.
10. Mai 2004 – Wohnhausbrand – Durchzündung – zwei verletzte FA
Raesfeld, Kreis Borken (NRW). Brand eines alten Mehrfamilienhauses. Das Gebäude war zu großen Teilen mit Holz verkleidet, bei Eintreffen der Feuerwehr brannte der hölzerne Treppenaufgang. Nach ca. 60 Min. war das Feuer im Erdgeschoss so gut wie aus.
Wenig später vernahmen die beiden Trupps im Innenangriff ein verdächtig anschwellendes Knistern und Rauschen im Haus.
Plötzlich kam es zu einer Rauchdurchzündung, eine Stichflamme schlug durch das Gebäude, Ziegel prasselten vom Dach. Rauchgase mussten sich in den Holzdecken und hinter Wandverkleidungen unbemerkt über die Etagen bis zum Dachboden ausgebreitet haben.
Fluchtartig zogen sich die Trupps zurück. Der Trupp im Parterre erreichte ohne Probleme die Haustür. Der Trupp im 1. OG sprang förmlich aus dem Fenster auf die Steckleiter (darüber ging der Trupp auch vor) und stieg schnell ab.
Die Einsatzkräfte erlitten Schürfwunden und leichte Verbrennungen am Arm (zwischen Handschuh und Jacke). Ein Feuerwehrmann zog sich eine Rauchvergiftung zu.
5. Januar 2001 – Wohnhausbrand mit Durchzündung – Selbstrettung von vier FA
Düsseldorf (NRW). Brand eines Einfamilienhauses (nachts, 1,5 Geschosse) in Düsseldorf. Zwei Kleinkinder wurden über Drehleiter gerettet, die Mutter wurde unter einer Fluchthaube nach draußen geführt.
Die Kombination aus DLK in Anleiterbereitschaft und bereitstehendem voll ausgerüsteten Sicherheitstrupp mit zusätzlicher Sicherungs-Schlauchleitung rettete bei diesem Einsatz dem Angriffstrupp vermutlich das Leben:
Nach einer erfolgreichen Menschenrettung kam es bei der danach erfolgenden Bekämpfung eines ausgedehnten Dachstuhlbrandes zur Durchzündung im gesamten Bereich des Angriffs- bzw. Fluchtweges.
Der Angriffstrupp wurde im Dachgeschoß abgeschnitten und durch die Flammen erheblich gefährdet. Der Truppführer setzte einen Notruf über den Abschnittskanal ab.
Der Sicherheitstrupp erhielt darauf sofort seinen Einsatzauftrag, schloss seine Lungenautomaten an und konnte mit der bereit liegenden Sicherungsschlauchleitung die Flammen im Bereich des Fluchtweges unverzüglich bekämpfen.
Der Angriffstrupp versuchte mit der Feuerwehraxt nach DIN die Wärmeschutzverglasung des Fenster zu zerstören, was erst nach mehrmaligen sehr kräftigen Schlägen gelang, da die Feuerwehraxt immer an der Fensterfläche abrutschte und nicht genug Energie zur Zerstörung übertragen werden konnte. Dann machte sich der abgeschnittene Angriffstrupp an einem Dachfenster der bereit stehenden DLK-Besatzung bemerkbar.
Die DLK war bereits (nach der darüber teilweise erfolgten Menschenrettung) wieder in die Nähe der Fenster in Stellung gebracht worden und leiterte sofort das Fenster mit dem Angriffstrupp an. Dieser brachte sich aus dem Fenster über die Drehleiter in Sicherheit und wurde nur leicht verletzt.
Künftig soll statt der Feuerwehraxt ein anderes Schlag- und Suchwerkzeug (z.B. Halligan mit TNT-Tool oder Spaltaxt) auf den Fahrzeugen verlastet und im Einsatz mitgenommen werden. (Vgl. MAESCHLE, 2001)
2. April 2004 – Wohnungsbrand – Rauchdurchzündung – Selbstrettung durch Sprung – zwei verletzte FA
Berlin – Bei Eintreffen wurde ein Vollbrand in einer Wohnung im 1.OG eines 5-geschossigen Wohngebäudes festgestellt.
Während die Bewohner in Sicherheit gebracht wurden, breitete sich der Brand schlagartig von der Wohnung in den Treppenraum aus. Dabei wurden die beiden Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr vom Feuer eingeschlossen, so dass sie sich nur durch einen Sprung aus dem 4.OG in ein Sprungpolster retten konnten. Dabei erlitt einer der Kameraden Frakturen an Becken und Lendenwirbeln, sowie Verbrennungen an ca. 10 % der Hautoberfläche.
Der andere Betroffene erlitt an ca. 30 % der Hautoberfläche Verbrennungen unterschiedlicher Stärke und Tiefe. Beide wurden noch vor Ort von Notärzten versorgt und anschließend in Krankenhäuser gebracht. Gegenwärtig werden beide im Brandverletztenzentrum des UKB Marzahn behandelt. Ihr Zustand ist nach Auskunft des UKB stabil. Sie sind ansprechbar. Der Heilungsprozess wird jedoch aufwändig und langwierig sein.
Im Verlauf des Einsatzes wurden fünf Bewohner über Drehleitern gerettet. Die Brandbekämpfung erfolgte unter Einsatz von 20 Behältergeräten mit 4 C-Rohren. Ein Ausbreiten des Brandes auf das gesamte Gebäude konnte verhindert werden.
Quelle: atemschutzunfaelle.eu, atemschutzunfaelle.org, drehleiter.info
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